Max Beermann (1873 – 1935)

Zur Namensgebung des Max-Beermann-Platzes in Heilbronn

Ob Bezirksrabbiner Dr. Max Beermann sich über diesen Platz freuen würde? Ich stelle mir einen Besuch in seiner Wohnung in der oberen Schillerstraße vor: Die Wände seines Arbeitszimmers sind voller Bücher: Rabbinische Fachbücher natürlich, aber ebenso viel deutschsprachige Literatur: Imanuel Kant, Friedrich Nietzsche, Wolfgang von Goethe und natürlich Ludwig Uhland, der begabteste Lyriker des Schwäbischen Dichterkreises. In seinem Arbeitszimmer finden sich auch Uhlands freiheitliche politische Schriften mit vielen Anstreichungen. Max Beermann würde sich sehr freuen, jetzt auch im Stadtbild so eng mit Uhland verbunden zu sein: Auf seinen Platz mündet Uhlands Straße.

Andererseits mochte Max Beermann gar nicht im Zentrum stehen. Er war eine Seele von Mensch, liebenswürdig und fürsorglich. Er liebte Heilbronn und seine Bürger; deshalb lebte und arbeitete er hier von 1915 bis 1935 – zwanzig Jahre. Er war ein gebürtiger Berliner; studierte in Berlin, erwarb den Doktor der Philosophie in Gießen und sein Rabbinerdiplom in Berlin. Er war ein Theologe mit „Leib und Seele“: rabbinische Lehr-entscheidungen und Austausch mit Christen, Diskussionen mit Lehrern und Schülern in den Heilbronner Schulen und im Lehrerseminar, Predigten in der Synagoge und Vorträge in der Harmonie – und dann die vielen, vielen Zeitungsartikel im ganzen Deutschen Reich.

Max Beermann war viel in den Heilbronner Straßen unterwegs: Er besuchte Juden und Nichtjuden, denen die Lage in den gar nicht „Goldenen 20ger Jahren zusetzte: Er war bei Schwerkranken und ihren Angehörigen, bei Suchtkranken und Strafgefangenen, bei völlig Verarmten und Wohnungslosen – die Fürsorge für die vielen Menschen ganz am Rand war ihm Herzensangelegenheit; hier wurde jüdischer Glaube an den barmherzigen Gott konkret. Glaube muß Hand und Fuß haben, konkret und mitmenschlich sein.

Max Beermann wohnte in der Schillerstraße, oberhalb des Alten Friedhofes, direkt neben Luise Heilbronner, nach der die „Luise Bronner Realschule“ benannt ist. Zur Familie Beer-mann gehörte seine Ehefrau Recha und die beiden Töchter Ruth und Elisabeth. Leider wissen wir über die Familie sehr wenig.

Rabbiner Max Beermann war im Judentum verwurzelt und bezog von da seine Orientierung und seine Kraft. Ebenso verwurzelt war er in der deutschsprachigen Kultur. Das kulturelle Leben im damaligen Heilbronn ist ohne Dr. Max Beermann gar nicht vorstellbar: Für die großen Dichter- und Philosophenjubiläen wurde er als Festredner angefragt. Vorträge hielt er vor jüdischem und christlichem Publikum. Zusammen mit Christian Leichtle baute er die Volkshochschule auf und war einer der eifrigsten Dozenten.

Max Beermann ist 1935 im Alter von 63 Jahren gestorben; „an gebrochenem Herzen“ schrieb seine Tochter Ruth. Die Nationalsozialisten hatten es anfangs nicht einfach in Heilbronn, aber sie setzten sich immer mehr durch. Zusammen mit seinem Freund, dem Rechtsanwalt Dr. Siegfried Gumbel, kämpfte Beermann gegen den braunen Ungeist – aber alles, was ihm wichtig war, ging durch diesen Kulturzusammenbruch unter: Am 1. April 1933 wurden jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet – ein Auftakt brutaler Gewalt. Im Mai 1933 wurden in allen Universitätsstädten Bücher deutschprachiger Literatur und Philosophie verbrannt. Freunde und Kollegen wechselten in der Stadt die Straßenseite. Die Volkshochschule wurde ab 1934 der NS-Ideologie unterstellt – Philosophie und Religion aus den Semesterplänen gestrichen. Max Beermanns Welt ging unter. Nachdem seine Frau Ruth 1932 gestorben war, starb er selbst 1935. Er wurde unter großer jüdischer Anteilnahme in Heilbronn beerdigt.

Dieser Platz erinnert uns Heilbronner nun an Max Beermann, der tief verwoben war mit dem hiesigen Leben. Ich stelle mir vor, was er gemacht hätte, wenn er in den letzten Wochen bei uns gewesen wäre: Er hätte mit der jüdischen Gemeinde das Schawuotfest, das Erntedank- und Bundesfest gefeiert – mit Gottesdiensten und Kiddusch. Er wäre gern zur Wiedereinweihung der Nikolaikirche gekommen und hätte ein herzliches Grußwort gebracht. Er hätte auch einen eindringlichen Artikel für die „Heilbronner Stimme“ geschrie-ben zu der Veranstaltung auf dem Kiliansplatz gegen Wohnungsnot und explodierende Mietpreise. Und er hätte unterwegs mit vielen gesprochen, die Corona ängstigt und zermürbt und hätte sie bestärkt zu einem festen Gottvertrauen und in einem fürsorglichen Umgang miteinander – denn so war er: Max Beermann.

Günter Spengler, Heilbronn, 30. Juni 2021

Sh. auch die umfängliche Publikation von Günter Spengler im Online-Archiv der Stadt Heilbronn

Religiöse Schriften des Bezirkrabbiners Dr. Max Beermann

Responsenliteratur hat sich von Rabbiner Beermann leider nicht erhalten, also religions-gesetzliche Beurteilung konkreter Anfragen aus dem Alltagsleben. Aber in vielen Zeitungs-artikeln hatte er sich zur persönlichen Lebensführung von Juden geäußert und zu Fragen der Lebensgestaltung nach der Tora Stellung genommen.

Welcher religiösen Richtung gehörte Max Beermann an? Er war am Orthodoxen Rabbiner-seminar in Berlin ausgebildet worden. Er verwahrte sich allerdings ausdrücklich dagegen, als orthodoxer Rabbiner bezeichnet zu werden. Er gehörte aber auch nicht zum liberalen Judentum – wie das auf Grund seiner Lebenseinstellung und Verhaltensweisen vielfach vermutet wird. „Wir Rabbiner der mittleren Richtung sind ein kleines Häuflein und bilden eine Mittelpartei“ 1 Beermann lehnte eine „konfessionelle“ Einstufung strikt ab – seine religionsgesetzlichen Stellungnahmen begründete er im Einzelfall auf Grund der Tora und des Talmud.

Das persönliche jüdische Leben solle sich an der Halacha (Religionsgesetz) ausrichten. Es geht dabei nicht um eine vernünftige Lebensgestaltung und erst recht nicht um eine dem Zeitgeist angepaßte, sondern um eine „keduscha“, um die Lebensheiligung im Alltag 2

Die jüdische Identität sei zu bewahren und die Bewahrung jüdischer Eigenheiten, besonders in Zeiten äußerer Bedrängnis (1922!), wenn das Judentum seine „gott-gegebene Besonderheit unter unsäglichen Schwierigkeiten behaupten muß“ 2. Allerdings denkt Beermann nicht rigoros; denn „wo das Leben mit den Vorschriften in ernsten Widerstreit gerät, da gibt das Gesetz selber die Möglichkeit, bei voller Wahrung des grund-sätzlichen Gehorsams gegen die jüdische Lebensordnung lebens g e f ä h r d e n d e n Umständen Rechnung zu tragen“ 2 Was darüber hinaus geht dürfte dem Einzelnen keine weitere Hilfe sein, dem Gesamtjudentum aber schaden. Deshalb lehnt er die „Moderni-sierung“ der Kaschrut (Speisegesetze) ab, wie dies vom liberalen Judentum gefordert und praktiziert wird. Andererseits gilt grundsätzlich das Talmudgebot, daß in „Lebensgefahr … die Gebotsforderung zurück“ tritt 3.

Die Halacha gilt, aber nicht aus Gesetzlichkeit oder „Werkgerechtigkeit“ (wie dies von Christen immer wieder behauptet wurde (und wird), sondern aus innerer Überzeugung – Beermann spricht von „Gesinnung“ – um deretwillen sogar ein Gesetz übertreten werden kann: „Es ist etwas Herrlicheres um die Übertretung eines Gesetzes aus reiner Gesinnung, als um die Erfüllung eines Gesetzes aus unreiner Gesinnung“ 3 – z.B. als Demonstration der eigenen Frömmigkeit. Grundsätzlich gilt: Das Verhalten den Mitmen-schen gegenüber soll durch Liebe geprägt sein: „Lasst euch kränken, kränkt nicht wieder, hört euren Schimpf und erwidert nichts, tut alles aus Liebe, bleibt unter Schmerzen fröhlich, dann seid ihr Gottesfreunde und strahlend wie die Sonne, wenn sie aufgeht in ihrer Pracht“ 3 „Weil Gott die Liebe ist, deshalb sollen auch wir liebevoll sein, das ist das hohe Ideal“ 4

Die Gebote versteht Beermann als Hilfe zur Bildung der Persönlichkeit und zur Gestaltung des Alltags: Alle Satzungen des Zehnwortes dienen dazu, „das Gemüt zu einem Tempel Gottes zu gestalten“ 5 – Beermann bezieht sie auf konkretes Alltagsverhalten: z.B. das Verbot, andere Götter zu verehren versteht er als Warnung vor „gottvergessener Huldi-gung der Heroenen, seien es Willensgenies wie Bismarck, Künstler wie Wagner oder Philosophen wie Nietzsche. Heldenverehrung … ist sündiger Gottesdienst…“ 6 „Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligst …“ deutet Beermann als Aufforderung, „die Zeitkrankheit der Nervosität (zu) bekämpfen“6 „Du sollst nicht töten“ versteht er als Aufforderung zur Achtsamkeit gegenüber der Gesundheit: „Das Wort: Sorget gar sehr für Eure Gesundheit, ist ein wichtiger Grundsatz der Thora“ 6 Wir sehen, wie Rabbiner Beermann einen zentralen Gesetzesteil der Tora hineinflicht in den ganz konkreten Alltag der Gemeindeglieder, als seelsorgerliche Hilfe für die Lebensgestaltung.

Wie die Gebote der Tora sind die Gebete für Juden eine Bekräftigung der Gemeinschaft mit Gott. An erster Stelle steht das Kadosch haSchem/Heiligung des Gottesnamens – das Kaddischgebet: Es beginnt: „Geheiligt werde der Name Gottes in der Welt, die er nach seinem Willen geschaffen. Sein Reich möge gar bald, noch zu euren Lebzeiten kommen. Es sei für ewig und immer gepriesen sein Name …“ 7 Die Entstehung dieses Gebetes reicht in die Zeit Jesu von Nazareth zurück – sein „Vaterunser“, das Hauptgebet der Christenheit, wurzelt im Kaddisch. Es ist in aramäischer Sprache überliefert, in der Volks-sprache, während die Kultsprache damals das Hebräisch war. Beermann erzählt in seinem Artikel über das Kaddisch: Es wurde in der Volkssprache gesprochen, damit es jeder verstehen kann. Und: Damit die Engel (die wohl hebräisch sprechen) die Menschen nicht beneiden wegen der außerordentlichen Schönheit dieses Gebetes.8 Das Kaddisch ist ein Gebet zum Lobe Gottes, zur Heiligung seines Namens. Es wird immer wieder rezitiert, besonders in jedem Gottesdienst als Abschluß wesentlicher Abschnitte. Es wird auch gebetet nach der Bestattung eines Toten und es ist religiöse Pflicht der Kinder, das Kaddisch für ihre Eltern zum Jahrzeitgedächtnis am Schluß des Gottesdienstes zu sprechen. Zur Zeit Beermanns hatte das Kaddisch nur noch diese Bedeutung als Totengebet; mit seiner Erklärung holt er es wieder in die Mitte des Lebens hinein: „Die Heiligung Gottes allein … ist die Bahn zu jedem Fortschritt und die Grundlage einer fried-vollen und harmonischen Lebensgestaltung der gesamten Menschheit“. 9 Neben den überlieferten Gebeten der jüdischen Gemeinschaft ermutigt Rabbiner Beermann, durch ganz persönliche Gebete mitten im Alltag, in eigener Sprache und in verschiedensten Situationen die Verbindung mit Gott zu vertiefen.

Die ganz eigene „Frömmigkeit“ kann bestärkt und den nächsten Generationen überliefert werden durch die großen jüdischen Jahresfeste. In ihnen bündelt sich jüdischer Glaube und mit ihnen wird jüdischer Glaube gefeiert. Diese uralten Bräuche und ganz familiären Lebensangebote sind einmalig in den religiösen Kulturen der Welt. Jüdisches Leben hat sich durch die Jahrtausende und in immer neuen Verfolgungen gerade durch sie erhalten. Max Beermann gibt immer wieder Hilfen zum Verständnis der Feste; als Beispiel seine Interpretation des Feststraußes am Sukkotfest (Laubhüttenfest)10. Der Feststrauß besteht aus dem Lulav (Palmzweig), dem Etrog (einer Zitrusfrucht), den Hadassim (den Myrtenzweigen) und den Arawot (den Bachweiden). Sie verbindet Beermann mit Texten der Agade 11 (Lehrerzählungen). Das Holz und die Frucht der Myrthenzweige verbreiten einen lieblichen Duft. Beermann sieht in ihnen das Vertrauen zu Gott charakterisiert, der die Schwachen beschützt – besonders die Kinder: Er „schirmt sie vor den Gefahren, die ihrem jungen Leben von allen Seiten drohen“ 12 Da Beermann alle Früchte des Feststraußes als Kennzeichen der Agada deutet, erkennt er in den Myrthen die „Eigenart agadischer Darstellung, sich mit zarten Andeutungen zu begnügen … ihren Tiefsinn mehr erraten zu lassen, als leicht zu verraten“. 13 Zum Palmzweig schreibt Rabbiner Beermann: „Wie die Palme ein Bild stolzer, ragender und erhabener Schönheit ist und stark und fest …zur Höhe strebt, so sind auch die Aussprüche der Agada von erhabensten Ideen erfüllt“ 14. Stolz nennt er als Fundament der ganzen Tora, die Aussage über die Gottes-ebenbildlichkeit des Menschen, aus der jüdischer Glaube die Brüderlichkeit aller Menschen, die Hoffnung, daß alle Guten in der Völkerwelt die Seligkeit erwartet und das Gott immer auf der Seite aller Unterdrückten steht.

Den Etrog sieht er als Symbol der Liebe Gottes und der Menschen an. „Nur wer sich seiner (Gottes) Mitgeschöpfe erbarmt, kann auf Erbarmen Gottes rechnen“ 15 Die gebotene Liebe sei auch gegenüber dem Feind und dem böse Handelnden geboten. Die Bach-weiden sind an Bächen und Gewässern zu finden – in den agadischen Überlieferungen erinnern sie an die Tränen der Juden in Zeiten der Unterdrückung und Ausrottung. Wie Bachweiden den Wassern trotzt, so steht über allem Leid und Untergang das Vertrauen auf Gottes Gegenwart und auf Gottes gute Zukunft für Juden und für alle Menschen.

Dieser theologische und seelsorgerliche Text entstand in Beermanns frühesten Rabbiner-jahren: 1899 – ein Jahr nach seinem Rabbinerexamen und ein Jahr nach seiner Ordination als Bezirksrabbiner in Insterburg. Er zeigt sein Bestreben, jüdische Überlieferungen in den konkreten Alltag jüdischer Menschen hineinzuflechten. Und er ist eine Kostprobe für Beermanns Sprache, die seine Zeitgenossen berührte und die in seiner Heilbronner Zeit von seinem dortigen Freund Siegfried Gumbel charakterisiert wurde. Hier noch einmal eine Kostprobe: „Auch unsere Zeit bedarf des begeisternden Wortes, der herzerfrischenden, die Gemüther weckenden Belehrung über die Thora …(Gottes). In der Agada findet sie ihr Nacheiferung weckendes Vorbild. In die reichen Schätze des Midrasch 16 versenke sich auch unsere Schriftdeutung immer aufs Neue und gewinne daraus liebliche Anmuth des Ausdrucks, edle Gesinnung, die Liebesfülle eines tiefen Gemüthes und den beseeligenden Reichthum heiliger Empfindung.“ 17

Fundorte der Zitate

1 Der Israelit 63 (1922), 2.11.1922, Heft 44, S.3

2 a.o.O., S. 3

3 Gemeindeblatt für die israelitischen Zeitungen in Württemberg, 1926, Nr. 2, S.25

4 Der Israelit, 41. Jahrg., Nr. 8, 25.1.1900, S. 145

5 Allgemeine Zeitung des Judentums, AZJ, 9.6.1905, S.268

6 Moderne Gedanken im Lichte des Zehnwortes, in: Allg. Zeitung des Judentums, AZJ, 9.6.1905, S. 268

7 Jüdisches Lexikon, Bd. 3, 1929, Sp. 519 – mit der Übersetzung aus M.Beermanns Zeit

8 Etwas über das Kaddischgebet, in: Der Israelit, 21.November 1898, S. 1703

9 a.o.O.,S.1705

10 Zum Ganzen: Max Beermann, Die Agada in der Beleuchtung des Feststraußes, in: Der Israelit, 18.9.1899, 74-75, S. 1553 ff. Üblicherweise ist die Agada das Verständlichmachen einer jüdischen Tradition für die Gegenwart. M.B. geht in diesem Artikel den umgekehrten Weg: Er nutzt eine jüdische Tradition (den Feststrauß) um die Agada zu interpretieren und zu charakterisieren – ein Beispiel für Beermanns sprachliches Geschick, mit Überlieferungen umzugehen.

11 Beermann spricht immer von „Agada“; das ist die aramäische Schreibweise – eingebürgert hat sich aber Haggada, die hebräische Schreibweise. Jüdische Überlieferung wird unterteilt in Halacha (Religionsgesetz) und Haggada (erzählende Erklärung von Toratexten). Jüdisches Lexikon, Bd. 2, 1929, Sp. 1331

12 Der Israelit, 18.9.1899, 74-75, S. 1553

13 a.o.O.,S. 1554

14 a.o.O., S. 1554

15 a.o.O., S. 1555

16 Mündliche Auslegungstradition, die später verschriftlicht wurde

17 Letzter Absatz des Artikels a.o.O. S. 1555

Günter Spengler, Heilbronn, 7. Juli 2021